Ambiguitätstoleranz – Mein Wort des Jahres

Der Kollege Friedemann Karig war auf einem Gymnasium in Bayern, ich in Bremen, weiter kann man intellektuell in Deutschland nicht auseinander liegen. Umso glücklicher bin ich, von ihm mein neues Lieblingswort gelernt zu haben. Voilà:

Hier ein Praxisbeispiel:

Es geht also um das klassische Einerseits-Andererseits, das für weit über 99 Prozent aller Probleme gilt. Allerdings erreichen Beiträge mit einer kerzengeraden Aussage signifikant höhere Interaktionsraten auf Facebook und Twitter und so gewöhnen sich die Älteren langsam die differenzierte Betrachtung der Dinge ab, Jüngere lernen von Anfang an die Debatte über Extrempositionen. Ein schönes Beispiel konnte man in der vorletzten Ausgabe der ZEIT lesen. Dort wagten die Autoren eine Pro-und-Contra-Gegenüberstellung zur Frage der privaten Seenotrettung. Die arme Mariam Lau hatte die undankbare Aufgabe unter der Headline „Oder soll man es lassen?“ die Fallstricke der privaten Seenotrettung aufzuzählen. Natürlich ist die Hölle über ihr eingebrochen, dabei war es in der Print-Ausgabe genau der Sinn der Übung, auf einer Seite die zwei Seiten der Debatte abzubilden. Mangelnde Ambiguitätstoleranz ist also mitnichten ein Problem des Bildungsniveaus. Eitelkeit kennt keinen Schulabschluss.

Die Zielfunktion unseres inneren Algorithmus lässt uns völlig nachvollziehbar so viel positive Resonanz wie möglich suchen. Dabei lernen wir automatisch, welche Verhaltensweisen uns mehr davon davon bringen. Eine Einerseits-Andererseits-Argumentation verspricht die niedrigste Wahrscheinlichkeit auf Likes, Shares etc., aber wir dürfen im Eifer des Gefechts nicht vergessen, dass viele, die nur das Einerseits auf Twitter bemerken, sich dem Vorhandensein des Andererseits durchaus bewusst sind. Es gibt nur keinen Grund, sich mit Ambiguität die Reichweite zu vermasseln. Im Internet geht es nicht um Einzelne, sondern um statistische Mehrheiten und hier tendiert die Debatte sichtbar und folgerichtig zur Ein-Faktor-Haltung.

Die extremen Ränder Deutschlands nutzen Sprache, um über neue Schlagbegriffe Stimmungen zu steuern. Das können wir auch: Ich rege herzlich an, dieses schöne Wort Ambiguitätstoleranz zu lernen und so oft wie möglich zu verwenden. Man wirkt ungemein schlauer und rettet aktiv die Diskussionskultur. Ambiguitätstoleranz. Ambiguitätstoleranz. Ambiguitätstoleranz.