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ie häufigste Erzählung im Silicon Valley lautet: Wir stellen die Kommunikations-Infrastruktur, aber wir sind nicht für die Inhalte verantwortlich. Schließlich haftet die Post auch nicht für das, was in den Briefen steht, genauso wenig sollte die Autobahn GmbH für Verkehrsunfälle zur Verantwortung gezogen werden. Mit diesem Narrativ schafft es die Tech-Lobby immer wieder, Politiker zu überzeugen, nicht die Plattformen zur Verantwortung zu ziehen, sondern die User. Und weil immer wieder Social-Media-Services mit neutralen Kommunikations-Plattformen verwechselt werden, will ich mal laut darüber nachdenken, wie die Post arbeiten müsste, um überhaupt mit einem Unternehmen wie Facebook vergleichbar zu sein:

Zuerst mal weg mit dem Porto, die Post muss gratis sein, dafür würde Werbung den Briefumschlag zieren. Aber damit nicht irgendeine Werbung auf den Briefumschlägen prangt, die den Adressaten vielleicht gar nicht interessiert, müsste die Post die Briefe öffnen respektive durchlesen. Und zwar jeden einzelnen von jedem einzelnen. Man müsste alle Briefe eines Postkunden scannen, um möglichst genau zu verstehen, was er denkt und wofür er sich interessiert. Habe ich Post-Kunde gesagt? Pardon. Es müsste Post-Nutzer heißen, denn die Kunden der Post sind jetzt nicht mehr die Briefeschreiber, sondern die Unternehmen, die ihre Werbung auf die Umschläge drucken. Das machen die nur, wenn ihnen die Post verspricht, dass ihre Werbung auch wirklich von potentiellen Käufern gesehen wird. Und deshalb scannt die Post immer mehr Briefe, um die Präferenzen jedes einzelnen Post-Nutzers noch engmaschiger zu erfassen.

Um schneller an Informationen zu kommen, muss die Post einen Weg finden, die Nutzer zu mehr Briefen zu motivieren. Die Post stellt also eine Fachkraft aus der Glücksspiel-Industrie ein, die ihre Expertise einbringt: Wir müssen ans Belohnungssystem. Jeder kann jetzt auf einer Skala von eins bis zehn bewerten, wie gut ihm der jeweilige Brief gefallen hat. Boom! Die Leute schreiben Briefe wie verrückt, weil man über das Briefeschreiben plötzlich seinen Selbstwert definieren kann. Das ändert alles. Die Post badet in Informationen über ihre Nutzer und Werbetreibende sind begeistert. In der Folge kann man zwanzigmal höhere Werbepreise als noch vor zwei Jahren aufrufen.

Und schon wieder hat der Glücksspiel-Typ eine geniale Idee: Verknappung schafft zusätzliche Anreize im Belohnungssystem! Die Post teilt ihren Nutzern also mit: Ab heute wird nicht mehr jeder Brief zugestellt, ihr kriegt nur noch Briefe, die wir nach Prüfung des Inhalts für Euch als relevant einstufen. Schreibt weiterhin auf die Briefe, wie sehr sie Euch gefallen haben, dann wissen wir, welche Briefe wir Euch weiterleiten und welche wir filtern. Die Nutzer sind zunächst irritiert. Ist denn die garantierte Zustellung nicht die ganze Idee hinter der Post? Einige genervte Nutzer schauen sich nach Post-Alternativen um. Es gibt leider keine gleichwertige Alternative und die wenigen anderen Gratis-Services kauft die Post einfach auf. Aber schon nach kurzer Zeit kratzt es die User gar nicht mehr, dass ihre Briefe nicht mal die Hälfte aller Adressaten erreichen. Der Wunsch nach Austausch wurde von einer viel spannenderen Motivation ersetzt: Dem Wunsch nach Anerkennung.

Briefe schreiben war mal Informationsaustausch, jetzt ist es ein Spiel. Und die User lieben es. Die Post befördert die Fachkraft aus der Glücksspiel-Industrie und wirbt weitere ab. Diese gerissenen Teufel haben dafür gesorgt, dass Menschen bis zu 50 Briefe pro Tag verschicken. Und alle sind voll wertvoller Informationen über die Nutzer, so dass die Post von Werbekunden mittlerweile jeden Preis verlangen kann.

Die Post erreicht jetzt so viele Leute, dass selbst Zeitungen ihre Artikel per Post verschicken. Für die Zeitungen gelten die gleichen Regeln: Je mehr Leute den Artikel spannend finden, desto mehr Leute erreicht der nächste Info-Brief. Über die ganzen Briefe verfügt die Post über einen so üppigen Datenschatz, dass man nicht nur Aussagen über einzelne User, sondern den Durchschnitts-User als solches Treffen kann. So belegen die Statistiken, dass Menschen ganz offenbar Dinge als spannend einstufen, die sie nicht intellektuell herausfordern, im Gegenteil: Menschen lieben Inhalte, die ihr bestehendes Weltbild verstärken. Die Post bedankt sich bei der Statistik-Abteilung und ändert den Algorithmus der Briefzustellung entsprechend. Post-User bekommen jetzt deutlich mehr Briefe, die ihr Weltbild bestätigen, als Briefe, die ihr Weltbild herausfordern. Und weil Zahlen fast nie lügen, geht der Plan auf.

Die Post fährt von Jahr zu Jahr immer höhere Gewinne ein und immer mehr Leute schreiben immer mehr Briefe. Politiker können gar nicht anders, als ihre Kommunikation über den Postweg zu lösen, wollen sie noch genügend Wähler erreichen. Aber die Politiker lernen schnell, dass sie nicht wie früher ihre Programme abspulen können. Sie müssen möglichst einseitig Weltbilder bedienen, ansonsten landen ihre Briefe im Filter. Die Statistiken zeigen, dass die meisten Briefe innerhalb homogener Gruppen verschickt werden, also zählt die Post eins und eins zusammen und steuert den Briefverkehr so, dass streng voneinander isolierte Cluster entstehen. Und schon wieder wird die Post mit einem Anstieg des Briefverkehrs belohnt.

Natürlich gibt’s ein paar Schlaumeier, die in Frage stellen, ob die Post den originären Zweck des Briefeschreibens nicht komplett pervertiert hat. Sie unterstellen, die Post sei schon lange kein neutraler Vermittler mehr. Aber diesen Kritikern nimmt die Post schnell den Wind aus den Segeln, indem man wahrheitsgemäß versichert: Noch nie hat die Post den Inhalt eines einzigen Briefs verändert. Ach ja: Und dann müsste die Post auch dereguliert werden, damit die meisten Auflagen der Bundesnetzagentur in eine freiwillige Selbstkontrolle umgewandelt werden. Wenn das alles geschehen ist, dann lassen sich Social-Media-Plattformen tatsächlich halbwegs mit der Post vergleichen.

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