Ich bin lange abgetaucht und weil ich viele Mails bekommen habe, in der Menschen wissen wollten, ob ich von Gebührenkritikern gekidnappt wurde, oder an einer Beatmungsmaschine hänge, will ich das Geheimnis lüften: Ich war in der Psychiatrie. Ich bin schon ziemlich lange in Depressionen verstrickt und die Krankheit war mir bis vor kurzem noch hochnot peinlich. Ich habe immer Leute dafür bewundert, die offen darüber geredet haben, aber gleichzeitig dachte ich: Tut man sich wirklich einen Gefallen damit? Natürlich findet sich heutzutage kaum noch jemand, der kein Verständnis für Depressionen hat, aber gerade als jemand, der männlich sozialisiert wurde, will ich nicht, dass irgendwer Mitleid mit mir hat. Dabei ist es genau dieses groteske Selbstbild, das gerade Männern befiehlt, sich gegen eine Fassade zu stemmen, die unter keinen Umständen einstürzen darf. Ich schreibe diesen Artikel, weil ich ihn mir selbst sehr gewünscht hätte, als ich gefühlt habe, dass es mir langsam an den Kragen geht. In diesem Fall gehört man in eine Klinik und nirgendwo anders hin. Ich war in zweien und hatte große Angst davor. Am Ende wollte ich gar nicht mehr raus und wenn auch nur einer oder eine durch diesen Artikel den Schritt wagt, sich helfen zu lassen, dann habe ich schon mehr geleistet als in den letzten 39 Jahren zuvor.

Der geschätzte David Foster Wallace hat es mal mit Es ist, als ob jede Zelle Deines Körpers so schlecht wäre, dass sie kotzen will ganz gut zusammengefasst. Das wäre eine schwere Depression, bei einer mittelgradigen ist es nur jede zweite Zelle, was auch nicht viel angenehmer ist. Dazu kommen in der Regel Panikattacken aus heiterem Himmel, Schlaflosigkeit und das berüchtigte Gedankenkarussell, das sich kaum beschreiben lässt. Gedanken über die eigene Situation rasen so schnell und unstrukturiert im Kreis, dass man förmlich merkt, wie das Gehirn jeden Tag oberhalb der Belastungsgrenze kocht. In der Folge kann der Kopf irgendwann nichts mehr. Gleichzeitig will man trotz gefühltem Hirntod funktionieren. Aber der Stress, eine stinknormale soziale Situation zu überstehen, ist unaussprechlich und irgendwann ist alles wie Treibsand.

Für mich ist diese Krankheit wie ein Drachen, der mich seit meiner Kindheit verfolgt. Ich schaffe es manchmal ein ganzes Jahr davor wegzulaufen, aber immer, wenn ich dachte, ich hätte ihn abgeschüttelt, taucht er noch größer als beim letzten Mal vor mir auf. Er kam zu meiner Hochzeit, zur Geburt meines ersten Sohnes und zur Aufzeichnung meiner ersten TV-Show – alles per se wunderschöne Ereignisse, die ich alle wie im Wachkoma erlebt habe. Das Schlimmste ist die Scham davor, teilnahmslos da zu stehen, während sich alle fragen, ob ich keinen Bock auf ihre Gesellschaft habe, oder warum ich mich nicht freue, worüber ich mich eigentlich freuen müsste. In der Regel simuliere ich ein Verhalten, von dem ich glaube, es sei angemessen, aber weil Menschen sehr feinfühlig für Authentizität sind, wirke ich entweder zwielichtig, oder neben der Spur. Dabei wünsche ich mir nichts mehr, als sagen zu können, dass es mir grundlos schlecht geht und ich am liebsten nach Hause gehen möchte. Aber sowas – so dachte viel zu lang – machen souveräne Menschen nicht.

Ich hatte unzählige ambulante Therapiestunden angesammelt, aber der Weg in die Klinik war immer tabu, weil ich alles sein wollte, aber kein Fall für die Psychiatrie. Tatsächlich hat sich mir die Psychiatrie zum einzigen normalen Ort auf Erden offenbart. Das geht soweit, dass ich sogar Menschen ohne psychische Erkrankung einen Aufenthalt empfehlen würde. In einer psychiatrischen Klinik erlebt man praktisch die radikale Umkehr etablierter gesellschaftlicher Verhältnisse. Das heißt: Rücksicht und Solidarität sind dort nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Es ist völlig normal, auf dem Gang in Tränen auszubrechen und kurz darauf gibt es gleich mehrere Schultern, in die man Rotz und Wasser lassen kann.

Der Klinikalltag ist auf den ersten Blick überraschend unspektakulär. Es gibt zwei bis drei Therapieeinheiten pro Tag, die vor allem zum Ziel haben, dem Tag, aber auch dem Kopf wieder Struktur zu geben. In der Regel steht, liegt, oder rennt ein Mensch mit ernsteren Depression den ganzen Tag planlos rum und ist nicht in der Lage, einfachste Entscheidungen zu treffen. In einer Klinik gibt’s einen überschaubaren, aber verbindlichen Stundenplan und wenn man sich daran hält, kommt auch wieder die Struktur im Kopf zurück. Es gibt Medikamente, aber man muss sie nicht nehmen. Viele mit Internet-Blitz-Diplom lehnen jegliche Form von Psychopharmaka ab, weil sich irgendwer in einem Forum über Nebenwirkungen beschwert hat. Ich kann nur sagen, dass ich vergleichsweise viele Medikamente nehme und jeden Tag dankbar dafür bin, dass es sowas gibt. Aber das ist tatsächlich Glaubenssache.

Der wichtigste Therapie-Aspekt findet ohnehin zwischen den einzelnen Therapie-Einheiten statt: Die Gruppe. Als bekennender Soziophobiker lagen meine Hemmungen vor einem Klinikaufenthalt auch in dem trockenen Umstand begründet, dass ich wahnsinnige Angst vor so vielen fremden Gesichtern hatte. Ich habe schnell verstanden, dass das Problem nicht die Fremden sind, sondern die Art und Weise, wie wir alle uns im Erstkontakt begegnen. Gerade Männer wollen einen Eindruck hinterlassen, nach dem Hallo kommt auch schon der Elevator-Pitch in eigener Sache. In der Klinik hingegen wussten wir teilweise bis zum Schluss nicht, was der andere beruflich macht. Stattdessen haben wir uns umständehalber mit unseren Defiziten präsentiert und es ist nahezu magisch, wie schnell man sich auf diese Weise nah kommen kann. Das war vielleicht die wichtigste Erfahrung, die ich je in meinem Leben gemacht habe, seitdem kann ich mit Sicherheit behaupten, dass Solidarität das schönste Gefühl von allen ist.

Bin ich geheilt aus der Klinik gegangen? Die Antwort klingt leider nach einem bärtigen Ninja-Meister: Das hängt davon ab, was Du als geheilt bezeichnest. Die Krankheit hat sich nicht in Luft aufgelöst und das wird sie auch nie. Ich weiß jetzt allerdings, dass es einen Ort gibt, an den ich gehen kann, wenn mich alle Hoffnung verlässt. Bislang war mein täglicher Begleiter die ständige Angst davor, mich früher oder später doch wieder wie ein Ertrinkender zu fühlen. Wenn wir beim Bild des Drachen bleiben: Er kann mich maximal bis in die Klinik jagen, aber nicht weiter. Leider suchen viel zu viele den anderen, irreversiblen Ausweg, ohne jemals die Chance einer Klinik ausprobiert zu haben, weil sie völlig falsche Vorstellungen davon haben.

An alle, die mir geschrieben haben: Es tut mir leid, dass ich nicht geantwortet habe und es zeugt nicht gerade von Respekt. Ich hab’s ein paar mal versucht von wegen “Hey, alles easy, trete gerade ein bisschen kürzer, dann bin ich mit vollen Akkus aber sowas von zurück!” – aber das ist halt gelogen und das möchte ich nicht mehr. In der Klinik habe ich auch gelernt, dass es keine falschen Menschen gibt.

Ich bedanke mich ganz herzlich beim ganzen Station-7-Team vom Theodor Wenzel Werk und bei meiner Gruppe. Es bricht mir das Herz, das wir uns dank Corona gerade nicht treffen können, aber ich freue mich jetzt schon wie ein Irrer darauf, Euch wiederzusehen.

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